Mein anderes Leben

Ihre Träume haben sich nicht erfüllt. Was Christa Hack stattdessen erlebte, würden andere vielleicht sogar als Albtraum bezeichnen. Aber sie hat sich dieser Aufgabe mutig gestellt.

Aus der Traum (?)

Nach einer völlig problemlosen Schwangerschaft erwarteten mein Mann und ich ein gesundes Kind. Und malten uns eine Zukunft aus, wie andere Eltern sie tausendfach erleben. Doch unser Leben sollte sich ganz anders entwickeln. Von einem Tag auf den anderen standen wir vor einer völlig neuen Situation: Unser Kind war schwer behindert.

Plötzlich mit einem so schweren Schicksal konfrontiert zu werden, versetzte mich in einen schockartigen Zustand. Ich war nicht gelähmt, aber ich funktionierte nur noch. Unser Kind brauchte unsere ganze Kraft und Fürsorge; es war ein Glück, dass mein Mann und ich diese Verantwortung gleichermaßen spürten.

Zunächst ging es um die medizinische Versorgung. Gerade in den ersten zwei Lebensjahren hatte Oliver große Anpassungsschwierigkeiten. Das schwere Krankheitsbild erforderte eine spezielle fachmedizinische Behandlung. Dazu kehrten die pflegerischen Notwendigkeiten Tag und Nacht um; ich kämpfte mit einem ständigen Schlafentzug. Wie sollte ich das auf die Dauer durchhalten?

Da gibt es nichts zu beschönigen

Doch Olivers Bedürftigkeit mobilisierte in mir ungeahnte Kräfte. Wir haben in der kurzen Zeit, die uns mit unserem Kind blieb, ein intensives Leben in unserer Kleinfamilie geführt. Allerdings auch ein sehr beschauliches, denn Olivers eingeschränkte Möglichkeiten zwangen uns zu einem streng reglementierten Tagesablauf und damit zu einem „entschleunigten“ Leben. Zumal im Herbst und Winter konnten wir trotz großen Aufwands höchstens 15 oder 20 Minuten lang mit ihm im Reha- Buggy „um den Block“ spazieren gehen.

Olivers labiler Gesundheitszustand hat unsere Sinne geschärft; wir haben in intensiver Weise gelernt, hinzusehen und hinzuhören. Ein Mensch, der nicht sprechen lernt, ist auf die sensible Wahrnehmung seiner Nächsten angewiesen; das erforderte von uns Eltern Konzentration und die Bereitschaft, uns voll und ganz auf unser Kind einzulassen. Ich möchte gar nichts beschönigen. Das Leben mit meinem schwerbehinderten Kind hat mich nicht nur einmal an meine Grenzen geführt. Und natürlich habe ich manchmal mit Enttäuschung und Bedauern beobachtet, wie sich gleichaltrige Kinder entwickelten und wie viel Schönes befreundete Familien mit ihnen unternehmen konnten.

„Stelle dich den Herausforderungen!“

Aber die Sorge für Oliver hat mich auch mit neuen Dimensionen von Leben vertraut gemacht und als Mensch gehörig durcheinandergewirbelt und indirekt in Frage gestellt: Wer bin ich? Was sind meine Werte? Und mit einem dicken Ausrufezeichen hat mir unser Kind mit auf den Weg gegeben: Weiche nicht aus! Stelle dich den Herausforderungen! Vielleicht sind es gerade Extremsituationen, die uns auf die wirklich wichtigen Dinge unmissverständlich hinweisen.

Oliver ist elf Jahre alt geworden und inzwischen schon fast fünf Jahre tot. Ich blicke auf unsere gemeinsame Zeit mit großer Dankbarkeit zurück. Die Trauer um unser Kind wird nicht leichter, aber ich bin auch stolz darauf, dass ich nicht weggelaufen bin und mich den Herausforderungen gestellt habe. Zugleich spüre ich, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod trotz aller Bedrängnis frei macht und mich bewusster leben lässt. Wenn ich ein gutes Essen und einen schönen Abend mit Familie und Freunden genieße, wird mir das öfter bewusst.

Ich habe einen geliebten Menschen verloren, der mir die Fülle des Lebens gezeigt hat.

Christa Hack